Mit 33 Jahren marschiert Stephen Curry eigentlich auf den Herbst seiner unglaublichen Karriere zu, wenn er nicht sogar schon mit beiden Füßen drin steht. Der Superstar der Golden State Warriors hat mittlerweile inklusive etlichen langen Playoff-Runs fast 900 NBA-Spiele in den Beinen, die letzten Jahre waren von Verletzungen geprägt und auch die große Dynastie seines Teams schien sich in den neuen Lichtern der Moderne zu verlieren. All diesen Anzeichen zum Trotz hat Stephen Curry aber noch lange nicht fertig in der besten Basketballliga der Welt.
Stephen Currys Füße bewegen sich, die Bälle fliegen, ein Fake hier, ein Pass dort. Um ihn herum tanzt ein scheinbar wohl geübtes Ballett. Ein fulminantes Orchester der Bewegung, dem er mit Ball als Dirigentenstab vorsteht. Auf dessen Bühne er die Hauptattraktion ist. Wenn er Basketball spielt, dann sieht es irgendwie anders aus als bei den meisten anderen. Es läuft alles flüssiger, reibungsloser. Die üblichen Dimensionen von Dreierlinie und bekannten Winkeln verschwimmen, ergeben sich im Angesicht der Künste des wohl besten Schützen, den dieses Spiel jemals gesehen hat. Und verdammt, wie scheint es ihm Spaß zu machen. Ihm und all denen, die ihm zuschauen. Endlich wieder.
Es waren zwei lange Jahre, in denen sowohl Stephen Curry als auch die Golden State Warriors nicht das sein konnten, was sie waren. Und auch nicht das waren, was sie sein wollten. Sie kamen üblich daher, menschlich, verwundbar. Verletzungen dezimierten stetig ihre Reihen, die Freude versiegte, das Spiel wirkte irgendwie gehemmt. Fast normal, möchte man sagen. Wobei dies in Bezug auf Steph Curry eigentlich ein Wort ist, das nicht wirklich fallen darf. Schließlich war er Scoring Champion der vergangenen Saison. Doch der Stachel des enttäuschenden Aus in der Play-In-Runde der Postseason saß nach bereits verpassten Playoffs und schwerer Verletzung im Vorjahr tief.
Stephen Curry ist wieder ganz der Alte
Ein Stück Leichtigkeit bei all seiner statistischen Brillianz schien verloren gegangen zu sein. Sind es doch in den Sphären, in denen er und andere All-Time-Greats sich bewegen, vor allem die Siege, die am Ende zählen. Diese Zeiten von vermeintlichen Diskrepanzen scheinen aber vorbei. Zumindest versuchen das der dreifache Champion und sein Team in dieser Saison auf bewundernswerte Art und Weise zu beweisen. Sie drücken dem Saisonbeginn mit sechzehn Siegen aus 18 Spielen ihren Stempel auf. Sie spielen wieder ihren patentierten Small Ball, den sie vorne mit explosivem Teambasketball und hinten mit aggressiver wie beweglicher Verteidigung krönen. Kein Team scort mehr als die „Dubs“. Niemand verteidigt in der Frühphase der Saison besser. Und einer ist auch wieder komplett der Alte – Stephen Curry.
Ein Publikum in losgelöster Ekstase
In vielleicht keinem Spiel ist das deutlicher als am 9. November, als die Atlanta Hawks im Chase Center vorstellig werden. Anfangs gehen die Falken noch in Führung, doch dann nimmt Curry die Zügel in die Hand. Mit jedem Wurf, den er aus Schieflage oder von zwei Metern hinter der Dreierlinie verwandelt, mit jedem wie an einer Schnur gezogenen Assist, ja mit jedem Atemzug peitscht er das nach Unterhaltung gierende Publikum in eine besondere Art von losgelöster Ekstase, die nur er hervorrufen kann. Curry selbst ballt die Fäuste, spannt die Muskeln für die Kameras (Foto), feiert jeden einzelnen Korb seines Teams, als ob es ein entscheidender in Game Seven der NBA Finals wäre.
Am Ende stehen 50 Punkte, zehn Assists und sieben Rebounds auf seinem Konto. Er verwandelt 14 seiner 28 Würfe aus dem Feld und trifft neun von 19 Dreipunktversuchen. Seine fehlerfreie Freiwurfquote bei 13 Versuchen wird fast nur noch zur Kirsche auf der Torte. Eine unbedeutende Randnotiz eines ohnehin schon bestechenden Meisterwerks.
Ein Meilenstein, dem weitere in dieser Saison folgen dürften
Curry wird mit der Partie der älteste Spieler, dem 50 oder mehr Punkte und zehn oder mehr Assists in einem NBA-Spiel gelingen. Ein Meilenstein, dem weitere in dieser Saison folgen dürften. Das wirklich bemerkenswerte an seiner monumentalen Leistung ist eigentlich, dass es bei Curry wie so oft zeitweise sagenhaft einfach aussieht. Er läuft und passt und springt manchmal wie in „Cruise Control“, ist Herr der Lage und Meister fast jeder Situation. Sein Lächeln, der kindliche Blick voller unbekümmerter Freude, in dem sich aber auch sein gnadenloser Killerinstinkt versteckt, sie tun ihr Übriges, um den Eindruck des vermeintlichen Müßiggangs zu vermitteln. Das natürlich nichts von dem einfach ist, was Stephen Curry macht, selbst für den Ausnahmekönner nicht, das verrät er immer wieder gerne.
„Ich arbeite im Sommer sehr hart an meinem Spiel. Dadurch komme ich zu Beginn einer Saison eigentlich immer gut in meinen Rhythmus“, sagt der 33-Jährige über seinen zweiten Frühling. „Vieles davon liegt einfach daran, dass ich sehr aggressiv spiele und komplett konzentriert bin. Zugleich suche ich mir aber im System meinen Platz und mache mir keine Sorgen über irgendwelche Zahlen.“ Jene Einstellung, die Curry schon lange Zeit als einen der härtesten Offseason-Arbeiter der Liga erscheinen lässt, hat ihn im vergangenen Sommer extra tief nach Wegen suchen lassen, neue Stärken aus seinem Körper heraus zu kitzeln.
Training daheim, statt olympisches Gold in Tokio
Er verzichtete mit seiner Absage für die olympischen Spiele in Tokio auf die Chance, seine erste Goldmedaille mit dem Team USA zu gewinnen, damit er sich und seinen Körper für den täglichen Grind in der NBA fit halten konnte. Mit seinem Coach Brandon Payne hatte Steph Curry über viele Sommer unzählige Würfe im Training abgefeuert, dabei eine für jeden Normalsterblichen astronomische Anzahl getroffen. Doch einfach treffen reichte ihnen in der vergangenen Offseason nicht mehr. Es musste mehr sein, damit Curry auch im Spätherbst seiner Karriere wieder einen ganz neuen Akzent für sein Team setzen konnte. Mithilfe eines Shot Trackers, der Flugkurve, Bewegung und Eintreffwinkel des Balles berechnete, dokterten Payne und Curry gemeinsam am vielleicht besten Wurf aller Zeiten herum.
Das Ziel: Der Perfektion immer einen Schritt näher zu kommen. Sobald Curry in Drills nicht genau in die Mitte des Zylinders traf, galt der Shot als daneben und oft zwang es den Superstar zu weiteren Runden, um gewisse vorgegebene Quoten zu erreichen. „Der mentale Aspekt dieser Herangehensweise war für uns entscheidend“, sagt Curry über das Training. „Wenn ich von vorne anfangen musste wurde das Ganze gleichzeitig zu einer Konditionsübung. Und mit zunehmender Müdigkeit wuchs der Drang, die Schüsse zu treffen. Damit konnten wir sehr gut Spielsituationen und den Druck in einer echten NBA-Partie simulieren.“
„Stephen Curry kennt seinen Platz in der Geschichte“
Jene Gedanken und der kritische Blick in den eigenen Spiegel, sie sind es, welche die ganz Großen von den anderen trennen, die Spreu vom Weizen, die All-Timers von den All-Stars. Es ist dieselbe Art von Arbeitseinstellung, die Curry nach einem Triple Double im ersten Saisonspiel seine Leistung als „Müll“ bezeichnen ließ, weil er lediglich fünf seiner 21 Würfe aus dem Feld getroffen hatte. Der überbordende Ehrgeiz ist allerdings nur ein kleiner Teil vom mentalen Gesamtkonstrukt Stephen Currys. Das weiß auch sein Head Coach Steve Kerr. „Er hält sich selbst an die höchsten Standards und das treibt ihn auch jeden Tag an“, sagt der Meistertrainer über seinen nun schon langjährigen Franchise Player.
„Er studiert das Spiel und er kennt seinen Platz in der Geschichte. Auf der High School bekam er fast keine Stipendien von Colleges angeboten. Das damit verbundene Wissen, sich alles hart erarbeiten zu müssen, ist in ihm immer noch fest verankert. Damit besteht bei ihm eine für einen Star wundervolle Kombination aus unerschütterlichem Selbstbewusstsein, einem Wissen um die eigene Stärke und einer tief verankerten Bescheidenheit. Das findet man wirklich nicht oft.“
Mitspieler genießen die Strahlkraft ihres Anführers
Die Warriors haben es in Stephen Curry gefunden und wissen es für sich zu nutzen. In dieser Saison spürt man die Kraft, mit der ein Spieler wie Curry seine Mitspieler hinter sich herziehen kann. Seine Kunst inspiriert, sein Drive stachelt an. Egal ob es die Youngster Jordan Poole oder Kevon Looney sind, oder aber Veteranen wie Nemanja Bjelica und Damion Lee. Sie alle genießen die Strahlkraft ihres Anführers und spielen mithilfe seiner Führung fulminant auf. Dies hält Steve Kerr jedoch nicht davon ab, auch selbst immer mal wieder das eigene Tun zu hinterfragen. Genauso wie es auch der beste Shooter aller Zeiten regelmäßig tut.
Veränderte Rotation stellt den Gegner vor neue Herausforderungen
So veränderte er in diesem Jahr die Rotation und lässt seinen Superstar mit einer anderen Spielzeitaufteilung agieren. Anstatt wie zuvor zwei volle Viertel und die Ende der anderen beiden, wechselt Kerr Curry nun normalerweise in der Mitte eines Viertels aus. Damit hat er ihn zu Beginn der Spielabschnitte und zum Ende auf dem Feld. Beides Spielsituationen, in denen Curry traditionell besonders stark agiert. Gleichzeitig kann Kerr ihn somit öfter gegen Ersatzspieler des Gegners nutzen. Damit sind die Coaches auf der anderen Seite schnell selbst zu Veränderungen ihrer normalen Minutendistribution gezwungen sind. Vorteil Warriors.
Wenn Curry weniger lange Pausen bekommt, fällt es Golden State außerdem leichter, sich den Runs ihrer Gegner zu erwehren. Etwas, was ihnen gerade in der jüngeren Vergangenheit nicht immer gelang. Auch der Point Guard selbst hatte zunächst ein wenig Schwierigkeiten mit der Veränderung, freundete sich aber schnell mit der neuen Verteilung an. „Das ist das großartige an Steph. Er ist für alles offen, wenn es uns dabei hilft, mehr Spiele zu gewinnen“, resümiert Kerr.
Steph Curry: „Wir müssen diese Aufgabe annehmen“
Wie viele Spiele es in dieser Saison sein werden, wird eine der faszinierenden Fragen der gesamten NBA-Spielzeit 2021/22 sein. Wie stark können die bislang schon so sehr überzeugenden Golden State Warriors noch werden, wenn zum Beispiel die Langzeitverletzten Klay Thompson und James Wiseman wieder in den Kader zurückkehren?
Golden State hat zumindest schon jetzt wieder etwas geschafft, was sie zu ihren Hochzeiten immer besonders stark gemacht hat. Sie zwingen Nacht für Nacht ihren Gegnern ihre Spielweise auf. Sie diktieren mit ihrem Small Ball die Lineups vieler Kontrahenten und sie selbst haben zumeist die Kontrolle über das Tempo in einem Spiel. Ganz entscheidend ist dabei der Rhythmus für das Team aus dem Golden State. Nicht zuletzt, weil auch ihr wichtigster Spieler Stephen Curry starken Fokus darauf legt und im freilaufenden Spiel umso gefährlicher agiert.
Rückkehr in die Riege der absoluten Meisterschaftsanwärter
Natürlich gibt es Dinge, die eben jenen Flow brechen können. Zum Beispiel Verletzungen, gewisse Strategien des Gegners, vielleicht auch erneute Lineup-Adjustments. Besonders wahrscheinlich scheint dies aber im Moment nicht, dafür agieren Curry und Co. schon wieder zu dominant. Egal, welches Gedankenspiel man über Golden State auch anstellen möchte. Das ultimative Ziel der „Dubs“ steht dabei außerhalb jeder Diskussion – die Rückkehr in die Riege der absoluten Meisterschaftsanwärter. „Daran gibt es keinen Zweifel. Es ist jetzt Zeit, dorthin zurückzukehren und das Level zu erreichen, von dem wir wissen, dass wir es in uns haben“, formuliert Steph Curry fast als eine Art Drohung an die gesamte restliche Liga. „Wir erwarten das einfach auch von uns selbst. Es wird anders aussehen, als in der Vergangenheit, das wissen wir alle, aber wir müssen diese Aufgabe annehmen.“
Das Alter ist nur eine Zahl
Curry selbst hat es längst getan. Er hat die Schwierigkeiten der jüngsten Vergangenheit umschifft und scheint das Warriors-Boot als Kapitän wieder in erfolgreiche Fahrwasser gelenkt zu haben. Natürlich ist er mittlerweile 33 Jahre alt. Doch was sind solche Zahlen schon im Vergleich zu dem, was er immer noch auf das Parkett der besten Basketballliga der Welt zaubert? Normal wäre es, wenn er ein klein wenig langsamer machen müsste, ein wenig mehr anderen die Bühne überlassen würde. Wenn die Würfe einfach nicht mehr so fallen wie früher. Aber was ist schon normal in Bezug auf Stephen Curry.