Dass Serge Ibaka am 14. Juni 2019 die Larry O’Brien Trophy in die Höhe reckt, gleicht an ein Wunder. Nicht, weil seine Toronto Raptors die favorisierten Golden State Warriors in der Finalserie besiegen – sondern, weil er einen der härtesten Wege in die NBA überhaupt hinter sich hat. Aber der Reihe nach.
Am 18. September 1989 kommt in Brazzaville, der 1,8 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt der Republik Kongo, ein Junge namens Serge Ibaka auf die Welt. Sein Leben beginnt weit abseits der vielen ESPN-Kameras und hellen Glitzerlichter der NBA, die ihn heute regelmäßig verfolgen. Zwar gibt es schon früh im Leben des kleinen Serge helle Lichter und hektische Kameras – jedoch auf andere Weise. Im Kongo kämpfen zerstrittene Rebellengruppen unerbittlich, Bombeneinschläge stehen an der Tagesordnung, die Kameras gehören etlichen Fernsehteams, die aus der Region berichten.
Während seiner Kindheit bestimmen Armut und Überlebenskampf den Alltag von Familie Ibaka. Der Raptors-Forward spricht nicht gern über die Dinge, die er bereits als Kind sehen und erleben muss. Es sind hässliche Erinnerungen, die der heutige NBAChampion mit sich trägt. Erinnerungen an eine Kindheit, in der es vom Guten zu wenig und vom Bösen zu viel gibt. Zu viel Armut, zu viel Krieg, zu viel Hass und Perspektivlosigkeit. Zu wenig Essen, zu wenig Liebe, zu wenig Zuhause und Schutz.
Schon früh sieht Serge nur einen Ausweg: Basketball. Denn neben den schlimmen Erfahrungen trägt er einen Schatz in sich, der ihm in diesen dunklen Zeiten wie ein Lichtblick am Horizont erscheint: Serge hat Talent. Talent, das ihn hinaus aus den Straßen Brazzavilles und hinaus aus dem Kongo bringen könnte. Talent, das ihn von einer Perspektive träumen lässt. Oder ihn zumindest glauben lässt, dass eine Zukunft ohne Armut und Gewalt auch für ihn und seine Familie möglich ist.
Halt bei der Großmutter
Das Talent, zu einem der besten Shotblocker der Association aufzusteigen, kommt dabei keineswegs von ungefähr: Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind ehemalige Nationalspieler des Kongo. Sie entdecken das Talent, fördern und unterstützen ihren Sohn so, wie es die Umstände eben erlauben. „Mein Vater war schon immer eine große Inspiration. Er konnte auch streng sein und mich fordern, aber er übte nie Druck auf mich aus“, sagt Serge Jahre später in einem Interview. Egal, welche schweren Schicksalsschläge er in frühen Jahren verkraften muss, der Sport mit dem orangenen Leder ist für ihn der Fels in der Brandung. Ibaka hat etwas gefunden, an das er glauben kann – und in seinem Leben Bestand hat.
Auch wenn ihn das Schicksal mit jedem Tag härter zu treffen scheint. Als Ibaka acht Jahre alt ist, verstirbt seine Mutter, kurze Zeit darauf kochen die politischen Unruhen im Land über. Mehrere untereinander zerstrittene Rebellengruppen versuchen, die kongolesische Regierung in Kinshasa zu stürzen. Diese war selbst erst 1997 im ersten Kongokrieg an die Macht gekommen. Was folgt, ist der blutige zweite Kongokrieg mit schätzungsweise mehr als drei Millionen Toten. Aufgrund der Verwicklung zahlreicher afrikanischer Staaten wird später auch vom „afrikanischen Weltkrieg“ die Rede sein. Die Bomben und Pistolenschüsse während der Kriegszeit nennen seine Freunde liebevoll „Musik“ – Musik, die nie verstummt. Egal ob bei Tag oder Nacht, die Kinder in Brazzaville hören sie rund um die Uhr.
Zwar kann die Familie kurz darauf aus der Hauptstadt fliehen, doch nach der Rückkehr in die Heimatstadt wird sein Vater verhaftet. Er wird beschuldigt, während des Krieges auf der falschen Seite gestanden zu haben. Serge kommt vorerst bei seinen Onkeln unter, landet aber schon bald auf der Straße. Dort, wo er schon in frühester Kindheit Wasser verkauft, um seine Familie zu unterstützen. Es vergehen Tage und Monate, bis der heutige, 2,13 Meter große NBA-Big Man bei seiner Großmutter Halt findet, die ihn bei sich zuhause aufnimmt.
Seine Mutter wurde ihm genommen. Sein Vater wurde ihm genommen. Aber eines konnte Serge Ibaka keiner nehmen: sein Talent. Und daran glaubt er. In einer Dokumentation, die viele Jahre später über ihn gedreht wird, sagte er: „Ich habe geträumt. Ich habe geglaubt. Ich habe gearbeitet. Ich habe alles gegeben. Ich wusste: wenn die Chance kommt, bin ich bereit“, so Ibaka über die damalige Zeit. Gleichaltrige machen sich über ihn lustig, wenn er um vier Uhr morgens aufsteht, um durch die verlassenen Straßen seiner Heimatstadt zu joggen – meistens sogar ohne Schuhe. Dafür hat Familie Ibaka genauso wenig Geld wie für ausreichend Essen. Doch auch das hält ihn nicht auf. „Wäre ich damals nicht aufgestanden, um zu laufen, wäre ich heute nicht hier. Ich wusste, ich muss Dinge anders machen als die anderen, um eine andere Zukunft als sie zu haben. Sie machten sich über mich lustig und sagten es sei nutzlos, aber ich hatte immer diese eine Vision in meinem Kopf, dieses eine Ziel“, so Ibaka.
Ein Team voller MVPs
Mit 17 zahlt sich seine unermüdliche Arbeit dann aus, er schafft den Sprung ins Ausland und landet bei CB L´Hospitalet, einem zweitklassigen spanischen Team. Nicht die große Bühne, nicht die Erfüllung des ganz großen Traums, aber der Beginn einer großen Reise. Der Druck, im Ausland erfolgreich zu sein, ist hoch. Geht es doch nicht nur um ihn und seinen persönlichen Traum, sondern auch darum, seiner Familie zuhause durch seinen Erfolg eine sichere Zukunft bescheren zu können. Alles andere als ein leichtes Unterfangen. Immerhin hat Serge Ibaka sage und schreibe 18 Geschwister. Aber tatsächlich nimmt seine Karriere in Spanien schnell Fahrt auf. 2007 wird er zum Adidas Nation Camp eingeladen und erscheint erstmals auf dem Radar einiger NBA-Scouts.
Am 26. Juni 2008 wird Ibakas Glaube an den großen Traum und der jahrelange Kampf dafür belohnt. Alles, worauf er seit frühester Kindheit hinarbeitet, erfüllt sich: An 24. Stelle wird er von den Seattle SuperSonics (nach Umzug heute Oklahoma City Thunder) im NBA-Draft gepickt und steht unmittelbar vor einem Engagement in der Nordamerikanischen Profiliga. Aber falsch gedacht, die Franchise „parkt“ ihn noch ein Jahr in Spanien, beim Club Ricoh Manresa. Dort entwickelt sich Ibaka enorm weiter, der Lohn folgt ein Jahr später: Die Oklahoma City Thunder holen ihn über den großen Teich und machen ihn zum ersten Kongolesen in der Geschichte der National Basketball Association.
Von 2009 bis 2016 streift er sich das Trikot der Thunder über. Bei ihnen wächst er zu einer echten NBA-Größe, blockt fast alles, was in Richtung des OKC-Korbs segelt und erreicht schon in seiner zweiten Saison sowie 2016 die Conference-Finals, in der sich sein mit den Superstars Durant, Westbrook und Harden gespicktes Team dann aber dem jeweils späteren Champion aus Dallas bzw. Golden State geschlagen geben muss. Während seiner Zeit bei den Thunder wird er zudem für die spanische Nationalmannschaft berufen, für die er noch heute aufläuft. Nach guten Jahren in Oklahoma wechselt er dann 2016 zu den Orlando Magic. Dort läuft es jedoch nicht so gut für Ibaka, er verschwindet ein Stück weit vom großen NBA-Radar – bis er sich als Free Agent im Juli 2017 den Toronto Raptors anschließt. Für drei Jahre kassiert er insgesamt 65 Millionen Dollar.
Menschen in Not helfen
Man könnte meinen, dass dieser finanzielle Segen das Ende der Bemühungen Ibakas darstellt, seiner Familie hat er längst das sorgenfreie Leben beschert, von dem er immer geträumt hat. Doch für den ehrgeizigen Kongolesen geht der Aufstieg noch weiter. 2018/19 schafft er es mit den Toronto Raptors in die NBA-Finals, wo ihm erneut die Golden State Warriors im Weg stehen. Nach dem sechsten Spiel, in welchem Ibaka 15 Punkte, drei Rebounds und zwei Assists beiträgt, darf sich der im „Jurassic Park“ extrem beliebte 2,13 Meter-Mann aus dem kongolesischen Brazzaville NBAChampion nennen.
Toronto und Ibaka – das passt einfach. Schon bei seiner Ankunft fühlt er sich wohl in seiner neuen, multikulturellen Heimat. Die Offenheit der Kanadier gefällt dem Power Forward von Beginn an, die Metropole nimmt ihn mit offenen Armen auf. Aber nicht nur für sein Engagement auf dem Parkett wird Ibaka respektiert. Mit seiner Foundation setzt er sich für Kinder auf der ganzen Welt ein und unterstützt sie dabei, an sich zu glauben. Nicht aufzugeben. Zu kämpfen. Kinder, die wie er in schwierigen Verhältnissen aufwachsen. Und dabei sind schwierige Verhältnisse wohl noch gelinde ausgedrückt.
„Ich habe die Foundation gegründet, weil ich das Bedürfnis hatte, Menschen in Not zu helfen. Im Kongo gibt es viele Probleme und viele Kinder, die es schwer haben. Ich weiß, wie sich das anfühlt, deshalb wollte ich vor allem der Jugend helfen. Das war ein großer Traum von mir“ so Ibaka in einem Interview. Er wolle alles in seiner Macht stehende tun, um seine Reichweite und Kraft zu nutzen, den weniger gesegneten Menschen und vor allem Kindern zu helfen. „Man darf niemals vergessen, wo man herkommt. Jeden Tag danke ich Gott für das Leben, das er mir gegeben hat, und jeden Tag erinnere ich mich daran, wie ich dazu gekommen bin“, so Ibaka weiter.
Auf den ersten Blick ist Serge Ibaka ein NBA-Superstar mit riesigem Gehalt und viel Bling-Bling. Auf den zweiten Blick ist er ein Junge aus dem Kongo. Ein Junge der weiß, wie sich Leid anfühlt. Oder Verlust. Aber auch ein Junge, der weiß, dass es sich zu kämpfen lohnt. Er ist der lebende Beweis dafür, dass man alles erreichen kann, wenn man den Glauben in sich selbst nicht verliert. Wenn man mutig ist und Visionen hat. Und wenn man um 4:00 Uhr morgens aufsteht, um ohne Schuhe joggen zu gehen.
Text: David Stoll
Fotos: Gettyimages
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