Am 29. Mai feiert Carmelo Anthony seinen 32. Geburtstag. BASKET hat sich in der Ausgabe 04/2016 intensiv mit seiner Entwicklung in der abgelaufenen Saison beschäftigt. Ob diese Entwicklung noch reicht, um mit den New York Knicks in absehbarer Zeit Erfolge zu feiern, steht noch in den Sternen.
Es ist ein lauer Februarabend in Texas. Fünf Sekunden vor Spielende, Spielstand 100:99 für die San Antonio Spurs. Carmelo Anthony treibt den Ball nach vorne in der Hoffnung, die starke Leistung der New York Knicks mit einem Game-Winner zu krönen und einen monumentalen Auswärtssieg zu verbuchen. Kawhi Leonard nimmt ihn auf und versucht „Melo“, einen der dominantesten Scorer unserer Generation, am Wurf zu hindern. Jeder weiß, dass der Small Forward diesen Wurf nehmen wird. Er, der Franchise-Player, hat es schon so oft getan. Er ist für genau diese- Momente gemacht, er wurde für sie geboren. Doch was dann passiert, zaubert allen Anwesenden an diesem schicksalhaften Abend Verwunderung auf die Mienen. Anthony nimmt den Ball auf und erspäht in der linken Ecke des Courts den frei stehenden Jose Calderon. Und er passt.
Calderon verwirft. Game over. Die Knicks verlieren. Minuten später wartet eine Reporter-Traube auf Carmelo Anthony, alle auf der Suche nach einer Antwort. Einer Antwort auf eine Frage, die Melo schon erwartet. Als er den Locker-Room betritt, lächelt er und sagt: „Ich kann mir genau vorstellen, was ihr wissen wollt!“ Und so ist es. Die Reporter überschlagen sich fast, wer Melo die alles entscheidende Frage stellen darf – warum hast du gepasst? Anthony lehnt sich relaxt zurück. „Jose war offen, und ich weiß, dass er diesen Wurf treffen kann“, erklärt Carmelo mit ruhigem Gesichtsausdruck, seine Mimik immer noch geziert durch ein Lächeln. „Ich vertraue meinen Teamkameraden, und es war das richtige Play zur richtigen Zeit.“
Die Reporter sind noch nicht zufrieden. Mal ehrlich, warum hast du gepasst? Normalerweise ist das doch der Moment, in dem Stars wie Anthony am hellsten leuchten? „Ganz ehrlich, ein paar Jahre früher nehme ich den Wurf wahrscheinlich selber“, lenkt Anthony ein und gibt den gierigen Stiften der New Yorker Sport-Presse ein bisschen von dem, wonach sie gelechzt hatten. „Und wahrscheinlich treffe ich ihn sogar. Aber das ist nicht der Punkt. Ich habe das korrekte Play für das Team gemacht, leider hat es nicht geklappt. Doch genau so müssen wir spielen, um Erfolg zu haben.“ Und wieder blickt Anthony lächelnd zu den Reportern auf, mit ruhigen, zufriedenem Blick.
Applaus für den neuen Teamgeist
Es ist schon verrückt, dass sich Anthony fast dafür entschuldigen muss, dass er diesen letzten Wurf gegen San Antonio nicht genommen hat. Doch der anfänglichen Verwunderung folgte schnell Anerkennung für Anthony. Die New York Daily News, die New York Post – sie und alle anderen Blätter der Millionen-Metropole applaudierten Melo für seinen Teamgeist und die korrekte Einschätzung der Situation. Es war gerade deshalb besonders, weil es genau das war, was Melos schärfste Kritiker seit Jahren von ihm fordern. An seinen Qualitäten als Scorer, als dominanter Shooter bestanden nie Zweifel, doch der Teamgeist blieb bei Anthony über Jahre auf der Strecke. Ein Grund dafür war, so Melo heute, dass er große Schwierigkeiten hatte, seinen Teamkollegen zu vertrauen. „Meine gesamte Karriere habe ich gedacht, dass ich 30 oder 40 Punkte machen muss, um Erfolg zu haben“, blickt der Forward zurück auf seine mehr als dreizehn Jahre andauernde Karriere. „Aber so langsam finde ich Vertrauen, und ich fühle mich genauso gut, wenn ich nur zehn Würfe in einem Spiel nehme. Dafür springen dann andere in die Bresche. Es hat sich vieles geändert für mich.“
Das hat es. Vor allem in den letzten zwölf Monaten. Langsam, aber sicher merkt Carmelo Anthony, dass der Zahn der Zeit auch vor ihm nicht Halt macht. Mittlerweile ist er 31 Jahre alt und hat inklusive der Playoffs 944 NBA-Spiele in den Knochen. Alles andere als wenig für einen Spieler, der schon immer von seiner Explosivität und Power gelebt hat. Jemanden, der immer dahin geht, wo es wehtut. Im letzten Jahr zwangen ihn Schmerzen an der Patellasehne zu einer Knieoperation, bei der ihm arthroskopisch verletztes Gewebe aus dem Knie entfernt wurde. Und die Nachwirkungen dieses Eingriff spürt Melo immer noch. „Ich habe ständig Schmerzen, und teilweise habe ich Schwierigkeiten, damit umzugehen“, so Anthony, der in dieser Saison immer mal wieder ein Spiel aussetzen muss, um sein Knie zu schonen. „Es beeinflusst meinen Rhythmus, und gerade mein Distanzwurf leidet darunter.“ Die Bilanz der Knicks ohne Melo? Null Siege, sieben Niederlagen. Auf das All-Star-Game verzichtete Anthony aber nicht, obwohl es ihm die Chance gegeben hätte, sein Knie für fast zwei Wochen auszuruhen. Manchmal blitzt der alte, eigensinnige Melo eben doch noch auf.
Eine neue Zeitrechnung bricht an
Neben den Zweifeln an seiner Gesundheit ist der zweifache Olympiasieger außerdem einer der Hauptdarsteller in dem nimmermüden Zirkus, den die Knicks eine professionelle NBA-Franchise nennen. Mit der Verpflichtung von Phil Jackson 2014 als Präsident kehrte keine Ruhe ein, auch die Trainerlegende konnte das Schiff nicht in erfolgreiches Fahrwasser bringen. Im Gegenteil. Headcoach Derek Fisher, persönlich von Jackson ausgewählt, wurde nach nur 40 Siegen aus 136 Spielen gefeuert. Großen Versprechungen und Vorschusslorbeeren ließ Jackson bis jetzt wenig folgen. Ein Lichtblick war in dieser Zeit jedoch dabei, und dieser bedeutete auch für Carmelo Anthony eine neue Zeitrechnung.
Im NBA-Draft 2015 zogen die Knicks einen schlaksigen, 20-jährigen Letten namens Kristaps Porzingis, der seitdem die Herzen der New Yorker im Sturm erobert hat. Und Melos gleich mit. Im vergangenen Sommer trafen sich die beiden zum gemeinsamen Training, und schnell zeigte sich Anthony von dem 2,21-Meter-Riesen mit Small-Forward-Skills beeindruckt. „Wir haben viel gesprochen, einfach Zeit miteinander verbracht und uns kennengelernt“, erinnert sich Carmelo an seine ersten Tage mit Porzingis. „Ich merkte schnell, dass er etwas Besonderes an sich hat, eine Aura, die man nur bei wenigen Spielern findet. Er hat mir so viele Fragen gestellt und arbeitet extrem hart an sich. Ich fasste schnell Vertrauen zu ihm und wusste, dass ich mit diesem Jungen eine Zukunft habe.“ 13,9 Punkte, 7,7 Rebounds und 1,9 Blocks pro Partie, unzählige Highlight-Dunks und überragende mentale Stärke taten ihr Übriges. „Sein Wurf von draußen ist eine Waffe, sein Dribbling ist stark und es gibt kaum etwas, was er nicht mit dem Ball kann“, zeigt sich Melo begeistert über Porzingis’ Karrierestart. „Ich stehe zu 100 Prozent hinter ihm und werde ihm helfen, wo ich kann.“
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