Die Los Angeles Lakers blieben in dieser Saison hinter jeglichen Erwartungen zurück. Für viele scheint der Grund dafür schnell gefunden: Russell Westbrook. Die Diskussion um „Mr. Triple Double“ als gnadenloser „Stat Padder“, der nur leere Statistiken statt der Leader-Rolle ausfüllt, wird in der NBA seit Jahren geführt – und aus aktuellem Anlass erneut entfacht. Zurecht?

Russel Westbrook: Der Guard wird allzu häufig als Sündenbock für die sportliche Krise der Lakers angesehen.
Russel Westbrook: Der Guard wird allzu häufig als Sündenbock für die sportliche Krise der Lakers angesehen. (Foto: Meg Oliphant/Getty Images)

Am 7. April 2017 spielen die Oklahoma City Thunder gegen die Phoenix Suns. Das letzte Viertel läuft. Die Thunder liegen mit über 20 Punkten zurück und Russell Westbrook bekommt nach einem missglückten Switch der Suns den Ball an der Dreierlinie. „Brodie“ steht so frei, dass er bequem noch ein Buch lesen könnte, bevor er abschließt oder zumindest zum Drive ansetzt. Für einen NBA-Spieler sind dies in solch einer Situation die Pflichtoptionen – alternativlos.

Setzt Russel Westbrook die falschen Prioritäten?

Doch Westbrook entscheidet sich anders. Er spielt ab. Und jeder, der in seinem Leben auch nur einmal ein Basketballspiel gesehen hat, muss konstatieren: Das sieht einfach falsch aus! Dieses fragwürdige Spektakel wiederholt sich in der Schlussphase des Spiels noch etliche Male. Und genau hier liegt der Grund, warum der 33-Jährige so kontrovers diskutiert wird, wie nur wenige andere Akteure in der Liga. Das Spiel ist längst verloren, doch das Triple Double für den Leader der Thunder noch nicht, denn: Zwei Assists fehlen noch.

Russel Westbrook und das Klischee vom egoistischen „Stat Padder“

Westbrook ist der Spieler mit dem meisten Triple Doubles in der NBA-History, doch nur wenige davon werden in einem Spiel tatsächlich über Sieg oder Niederlage entschieden haben. Eben, weil sie oft durch Aktionen entstehen, wie gerade beschrieben. Der Ausnahmespieler muss sich seit jeher nicht nur gegen Verteidiger, sondern auch gegen den Vorwurf behaupten, dass zweistellige Werte in den drei wichtigsten Kategorien ihm ebenso viel oder gar mehr bedeuten, wie der Mannschaftserfolg. Die aktuelle Lakers-Misere bietet wieder einmal exzellenten Nährboden, doch ist der als „Stat Padder“ verschriene Guard tatsächlich auch der Hauptverantwortliche für die Talfahrt der Lakers?

Russel Westbrook: Immer Ärger in Hollywood

Westbrook kam vor der Saison, um eine „Big Three“ in Los Angeles zu formieren. LeBron James, Anthony Davis und er sollten gemeinsam den Titel nach Kalifornien bringen, doch aktuell heißt die bittere Realität: Negative Bilanz im Westen und wohl Play-In Tournament – was definitiv nicht allein der Verdienst des Ex-Wizards Westbrook ist. Ihn aber nicht als Teil dieses Dilemmas zu sehen, wäre schlicht falsch. 43,6 Prozent aus dem Feld sind für den Topstar, den er in Lila-Gelb verkörpern soll, einfach zu wenig und spiegeln eine wirre Wurfauswahl wider, die Fragen aufwirft.

Schwierige Bedingungen bei den Lakers

Auf dem Papier sehen 7,6 Rebounds dagegen zwar nicht schlecht aus, die haben jedoch saftige vier Turnover im Gepäck, was nicht für die Entscheidungsfindung eines 33-Jährigen Veteranen spricht. Leicht hatte es „Russ“ in Hollywood aber bisher nicht. Partner Davis hatte in der Saison immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen – und auch, wenn es auch wieder ansprechendere Leistungen zu sehen gab, blieb „AD“ doch den Großteil der Saison weit unter seinen Möglichkeiten. Eine Dreierquote von 16,9 Prozent in 36 Spielen spricht Bände. LeBron James hat aber mit 17 verpassten Partien ebenfalls viel zugesehen.

Das Dilemma: James, Davis und Westbrook passen nicht zusammen

So ist die Konsequenz, dass der weniger verletzungsanfällige Westbrook in seinen 56 von 57 Spielen häufiger alleine mit einem Supporting Cast auf dem Feld stand, der in dieser Saison bisher daran gescheitert ist, sich das Prädikat „solide“ zu verdienen. Letztendlich ist der nicht vorhandene Dreier der Nummer Null aber Hauptursache dafür, warum es ebenfalls nicht läuft, wenn alle drei Vorarbeiter ausnahmsweise parallel Schicht haben. Denn um es kurz zu sagen: James, Davis und Westbrook passen einfach nicht zusammen.

Anthony Davis, LeBron James und Russel Westbrook
Man kennt und schätzt einander, aber auf dem Platz passen Anthony Davis, LeBron James und Russel Westbrook (v.l.) trotzdem nicht zusammen. (Photo by Adam Pantozzi/NBAE via Getty Images)

Russel Westbrook ist seit jeher ein Spieler, der vor allem Platz braucht, anstatt ihn für andere zu schaffen. Sein Spiel funktioniert über eine in der NBA lange Zeit unerreichte Athletik und Explosivität, die zu einer Vielzahl an Abschlüssen nah am Korb führt. Nur so ist „Brodie“ in der Lage, auf höchstem Niveau effektiven Basketball zu spielen. Dafür müssen seine Mitspieler Raum schaffen und die Dinge, die ihm abgehen, übernehmen. In erster Linie: Shooting aus der Mittel- und Langdistanz. Dies gilt ebenfalls, wenn auch bei weitem nicht in dieser extremen Ausprägung, für James und Davis. Um ihre Stärken voll auszuspielen, brauchen sie Platz auf dem Weg zum Korb.

Rob Pelinka hat sich mit seinen „Big Three“ verzockt

Und diesen kann ihnen der Slasher nicht verschaffen – im Gegenteil. Seit 13 Jahren ist Westbrooks Spielweise für niemanden in der Liga ein Geheimnis mehr. Und so sollte die Suche nach dem Hauptverantwortlichen der Talfahrt der Lakers nicht bei ihm enden, sondern bei dem Mann, der ihn neben Davis und James gestellt hat – Rob Pelinka. Der General Manager der Lakers hatte vor der Saison die Chance, seinen beiden Superstars mit Buddy Hield aus Sacramento die wesentlich bessere Ergänzung zur Seite zu stellen. Was den 52-Jährigen stattdessen dazu bewogen hat, eine doch eher halbgare „Big Three“ zurechtzubasteln und dafür wichtige Rollenspieler fast schon zu verscherbeln, bleibt sein Geheimnis.

Ist „Brechstangen-Brodie“ überhaupt ein absoluter Superstar?

Über Westbrook als Sündenbock der Lakers zu diskutieren ist müßig, denn er tut, was er kann. Dass er mit Talenten, die teils fehl am Platz sind, die Brechstange ansetzten muss, ist nicht sein Fehler. Und es ist naiv zu erwarten, dass er nach über zehn Jahren sein Spiel in einer Offseason umstellen kann. Abseits aller lobenswerten Bemühungen muss aber die Frage erlaubt sein, ob die Bezeichnung als absoluter Superstar für „Brechstangen- Brodie“ die richtige ist – oder überhaupt jemals war. Ist Westbrook ein Spieler, der ein Team im Alleingang zum Sieg führen kann? Wann funktioniert er überhaupt und was ist wirklich dran, am immer gleichen Vorwurf „Triple- Double über Teamerfolg“?

Stimmen die Umstände, stimmt auch der Ertrag

Hier lohnt ein Blick auf die Karrierephase, in der Westbrook wirklich effektiv war. Und das ist nicht etwa seine MVP-Saison in Oklahoma, sondern die Spielzeit 2019/2020 in Houston. Hier bekam der wuchtige Guard durch den radikalen „Smallball“-Ansatz der Rockets das erste Mal wirklich den Platz, den er zum Agieren benötigt. Dort fungierte er als Scorer einer Aufstellung, in der er von vier elitären Dreierschützen unterstützt wurde, welche die Verteidigung des Gegners auseinanderzogen. Das bestätigen auch seine Zahlen aus jener Zeit. Als Rocket stehen 47,2 Prozent aus dem Feld. Nie war Westbrook in seiner Karriere besser! Zudem stehen bei Versuchen für zwei Punkte 51,4 Prozent, was ebenfalls seinem Karrierebestwert entspricht.

Russel Westbrook muss der aktivste Spieler seines Teams sein

Für den 33-Jährigen sind diese Zahlen sehr effektiv. Blickt man auf den Ligavergleich, sind sie ordentlich, setzten aber keineswegs neue Maßstäbe. Zu Stande kamen sie jedoch nur, weil man die Aufstellung zeitweise komplett auf ihn als primären Ballhandler ausrichtete, was bei vier Spot-Up Shootern im Klartext bedeutet: Der Kalifornier muss der beste und aktivste Akteur seines Teams sein, um zu funktionieren.

Als zweite oder gar dritte Option brauchte er das orangene Leder aber zu häufig und war dabei durch das engere Feld in der Zone selbst zu ineffizient. Betrachtet man seine bisherigen 13 NBA Jahre, war der Zonenräuber als Teamleader daher nie auch nur in der Nähe eines Titelgewinns. So verbleibt seine statistisch effektivste Spielzeit ironischerweise als bester Beweis für den alles entscheidenden Vorwurf gegen ihn: Mit Westbrook allein kann man in der NBA nicht groß abräumen.

Im Rückblick kommt Russel Westbrook oft zu schlecht weg

Trotz dieser vielleicht bitteren Erkenntnis wird er in der NBA-Fangemeinde insgesamt zu negativ gesehen. Es Oscar Robertson gleichzutun und ein Triple Double im Schnitt aufzulegen, war in der modernen NBA eine Schallmauer. Dem Guard auf seinem Höhepunkt in Überschallgeschwindigkeit beim Durchbruch zu sehen, hat vielen Basketballfans eine Menge Freude bereitet. Ist man um einen versöhnlichen Blickwinkel bemüht, hat Westbrook in der NBA letztendlich alles gewonnen, was es für ihn dort zu gewinnen gab – und was für ihn den größten Wert haben dürfte: die MVP-Trophäe.

Bei aller berechtigten Kritik an seinem für den Mannschaftserfolg untauglichen Spiel, kommt seine hervorragende Einstellung zum Sport in der Diskussion über ihn zu kurz. Von Russel Westbrook kann man immer das Spektakel erwarten, den ganz großen Mannschaftserfolg dafür weniger. In einem Teamsport bietet das logischerweise Angriffspunkte. Man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass er auf dem Feld immer alles gibt. Und doch, er nimmt sich für sein Team viel vor. So viel, wie für einen eher unwichtigen Assist – und das ist wohl auch des Rätsels Lösung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in BASKET 04/22.