Erst verließen ihn Freunde und Teamkollegen, dann drängte das Schicksal den sportlichen Erfolg in den Hintergrund. Für Dirk Nowitzki die turbulenteste Zeit seiner Karriere. Beim Besuch von BASKET im Winter 2005 in Dallas verriet der deutsche Mega-Star und damals, wie sehr ihn die Ereignisse belasteten. Hier der Text im Original, so erschienen BASKET 01/2006

Hey, nimm die Finger aus meiner Nase!“ Dirk Nowitzki lacht, nimmt den Jumper von der Freiwurf­linie und … verwirft! Shooting-Coach Brad ­Davis ballt lächelnd die Faust, passt den Ball zurück zum Superstar der Dallas ­Mavericks und fuchtelt ihm wieder mit der Hand vor dem Gesicht herum. Während der Rest des Teams längst unter der Dusche steht, matchen sich der Coach und sein bester Lehrling immer noch auf dem Practice-Court des American Airlines Centers in Dallas. Der nächste Jumper … sitzt. Brad Davis flucht, dann bietet er Dirk grinsend eine Wette an: „Versenke die nächsten neun Würfe in Folge, und du hast Feierabend.“ Dirk nimmt an, natürlich. Swish. Swish. Swish … „Das waren acht“, ruft Dirk. „Nein, sieben“, flunkert Brad, der selbst 883 Spiele für die Mavs absolviert hat. Dirk steigt hoch, wirft, und der Ball prallt mit lautem Scheppern von der Ringkante ab. Der Kampf, der Trash-Talk und das Extratraining gehen weiter. So wie nach jeder Übungsstunde der Mavs. Mal fünf, mal 15 Minuten, mal eine Stunde. Jumper. Freiwürfe. Lowpost-Moves. Defense. Nicht weil Dirk muss, sondern weil er will.

Nowitzki
Dirk Nowitzki (Foto: Getty Images)

Sicher, Basketball ist Job für den Profi Dirk Nowitzki und deshalb Alltag. Basketball ist aber auch Ablenkung und Fun. Außerdem ist Basketball die Liebe seines Lebens. Selbst nach den letzten 18 Monaten, in denen mehr von ihm erwartet wurde, als er vielleicht in der Lage war zu geben. In denen er härter kritisiert wurde. Er mehr wegstecken musste. Mehr als je zuvor.

„Die vergangenen anderthalb Jahre waren die schwersten meiner Karriere“, gibt auch Dirk Nowitzki zu, als wir eine Stunde später beim BASKET-Interview in der Kabine der Mavericks sitzen. „Bis zum Ende der Saison 2003/04 ist ja eigentlich immer alles ziemlich glatt gelaufen.“ Aber dann. Eine Serie privater und sportlicher Rückschläge, am Ende die Verhaftung von Dirks Mentor, Manager und Privatcoach Holger Geschwindner im Sommer 2005.

„Es ist zuletzt wirklich einiges passiert“, sagt der 27-Jährige und kratzt sich dabei nachdenklich am Stoppelkinn. „Vor allem privat im menschlichen Bereich: Erst ist mein Onkel gestorben, dann meine Oma, und klar, die Sache mit Holger war auch alles andere als einfach.“
Die „Sache mit Holger“. Holger ­Geschwindner. Der im Sommer wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung verhaftet worden war. Ein Schock für ­Nowitzki. Für den Menschen. Den Freund. Für den Sportler Nowitzki, der deshalb die seit Jahren eingespielte Offseason-Routine verändern musste. Große Pause für die so selbstverständlich gewordenen Trainingseinheiten mit Geschwindner, der fast zwei Monate in Hof in Untersuchungshaft verbringen musste.

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Dirk Nowitzki (Foto: Getty Images).

„Nachdem das passiert ist, habe ich praktisch den ganzen Sommer nichts mehr unternommen und mich auch nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen“, erklärt der 2,13 Meter große Nowitzki, der sich währenddessen mit seinen Freunden Robert Garrett und Demond Greene in Würzburg fit gehalten hat. „Ich wollte einfach verhindern, von irgendwelchen Leuten darauf angesprochen zu werden.

Jeder, der weiß, welche Bedeutung Holger Geschwindner nicht nur als Trainer, sondern auch als Ratgeber und Freund für Nowitzki hat, kann sich vorstellen, wie wichtig er speziell diesen Sommer gewesen wäre. Denn Nowitzki blies sportlich der Wind ins Gesicht. Zum ersten Mal seit seiner Rookie-Saison lief in den letzten Monaten (trotz starker Nowitzki-Stats) bei den Mavs nicht immer alles so, wie sich das der deutsche Superstar des Teams vorgestellt hatte.

Den Anfang macht der Sommer 2004. Mit dem Abgang von Steve Nash verabschiedet sich Nowitzkis bester Freund aus Dallas. Der Glaube, die Karriere gemeinsam bei den Mavs zu beenden, weicht der Erkenntnis, dass die NBA ein knallhartes Business ist. Die „großen drei“ Nowitzki, Nash und Finley verlieren ihr Herz und der Deutsche den Freund, der großen Anteil daran hatte, dass Dirk Nowitzki heute als bester Europäer aller Zeiten zu den zehn besten Spielern der NBA gezählt wird.

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Dirk Nowitzki (Foto: Getty Images)

Mit einem Schlag erhält der Forward nun eine Verantwortung, die er zuvor nur gelegentlich mit Nash als Partner und Finley als erstem Helfer hatte.
Mit einem Schlag musste Dirk ­Nowitzki lernen, was er nie für nötig gehalten hatte: das Team im Alleingang zu führen. Seine Antwort auf die neue Herausforderung? Die beste Saison seines Lebens: 26,1 Punkte, eine Berufung ins All-NBA-First-Team, Lob von allen Seiten.
Bis zu den Playoffs. Bis es um etwas geht. Bis es gegen die Phoenix Suns geht. Und gegen Steve Nash! Plötzlich zeigt Dirk Nowitzki Nerven. Sein Spiel ist mit einem Schlag nur noch durchschnittlich. Dazu leistet er sich zwei verbale Ausrutscher, die zeigen, dass sich der Star seiner neuen Leader-Rolle zwar bewusst ist, aber nicht immer weiß, wie er mit ihr umgehen soll. Mal staucht er den Teamkollegen Jason Terry mitten in einem Spiel zusammen (gegen Phoenix), mal kritisiert er Center Erick Dampier harsch in der Öffentlichkeit. Beides Fehler, wegen denen sich die Medien und die Fans in den USA wie Bluthunde auf den Star der Mavs stürzen. Zum ersten Mal wird Nowitzki wirklich heftig kritisiert. Was ihn noch heute offensichtlich irritiert. „In den Playoffs habe ich einige Dinge nicht richtig gemacht“, bekennt er und klammert sich dabei fast an das Aufnahmegerät, das er für BASKET in der Hand hält. „Zum Beispiel wie ich ­Jason angeschrien habe. Vielleicht hätte ich das anders machen sollen, aber ich glaube, aus Fehlern kann man immer nur lernen.“
Und weil er sich trotz Superstar-Status so einsichtig und lernwillig zeigt, sind auch die Mitspieler nicht nachtragend. „Wir haben ihm den Auftritt nicht übel genommen“, kommentiert beispielsweise Guard-Veteran Darrell Armstrong die öffentliche Kollegen-Schelte. „Er wird noch lernen, wie man mit solchen Situationen umgeht, da bin ich mir sicher.“

Leader wider Willen

Nowitzki muss lernen! Denn spätestens seit dem Wechsel von Michael Finley zu den Spurs in dieser Offseason gehört dem All Star, Franchise-Player und Großverdiener Nowitzki die Leader-Rolle so selbstverständlich wie die Nummer 41. Und Nowitzki wird lernen.

Auch wenn die Art und Weise, wie er auf und neben dem Spielfeld seiner Beschäftigung nachgeht, nicht immer mit unserem Schubladenbild eines Leaders konform geht. Nowitzki kann den Job, kann die Rolle ausfüllen. Nur anders, als viele es von ihm erwarten. Er ist nicht der typische NBA-Star, wohnt in keiner Villa à la „Cribs“, fährt keine extravaganten Luxusschlitten. Stattdessen macht er den Eindruck, als hätte er von seinem 80-Millionen-Dollar-Deal noch keinen Cent angerührt. Er ist ein normaler Typ, will es auch bleiben. Und jeder nimmt ihm das auch ab. Nowitzki glänzt als der etwas andere Superstar. „Es war eigentlich schon immer mein Anspruch: Immer mit gutem Beispiel vorangehen, im Spiel alles geben. Dann kann dir nachher auch niemand etwas vorwerfen.“

Nowitzki
Dirk Nowitzki (Foto: Getty Images)

Doch Leader, gegen diese Rolle konnte er sich in Dallas lange wehren. „Weil Mike Finley immer im Hintergrund die Fäden gezogen hat“, wie Nowitzki ­erklärt. Sieben Jahre lang ist ihm Finley so zur Seite gestanden und hat dabei Spuren hinterlassen: „Im Endeffekt möchte ich den Führungsstil beibehalten, den Mike hatte. Also eher der ruhige Typ.“ Deshalb fordert er keine Sonderrechte, gibt sich zum Beispiel im Locker-Room als einer unter vielen. So was entspannt. Und so sehen die Kollegen den oft als ruhig, verschlossen, fast schüchtern porträtierten Star völlig anders: „Dies ist eine Nachricht an alle in Deutschland, die denken, dass Dirk ein ruhiger Typ ist“, grinst zum Beispiel Darrell Armstrong im Small Talk mit ­BASKET. „Mit der Meinung liegt ihr so was von daneben!“ Tatsächlich gehört Dirk Nowitzki zusammen mit Laber­backe Armstrong und Point Guard ­Jason Terry zur Spaßfraktion der Mavs. „Ich bin noch immer gern ein Clown und habe meinen Spaß“, erzählt Nowitzki. Wenn er sich mit Armstrong Tischtennis-Duelle liefert, bei denen die lautstarken Scherze durch die Katakomben hallen, er Journalisten Sprüche drückt oder beim Training an der Freiwurflinie den Song „Smelly Cat“ aus der TV-Serie „Friends“ anstimmt, dann könnte man glatt vergessen, was er in den letzten Monaten wegstecken musste.

Rückhalt aus Würzburg

Halt gegeben haben ihm in dieser Zeit vor allem seine Eltern und seine Schwester Silke. „Diesen Sommer habe ich mit meiner Familie so viel gemacht wie noch nie zuvor“, sagt Dirk Nowitzki nachdenklich. „Wir haben wirklich viel zu Hause zusammengesessen und über viele Dinge gesprochen.“ Was auch ­immer Mutter Helga und Vater Jörg ­ihrem berühmten Sprössling mit auf den Weg gegeben haben: Es hat geholfen. Nach einer starken Europameisterschaft, in der Dirk das deutsche Nationalteam ins Finale führt und zum MVP gewählt wird, glänzt er in Dallas in dieser Saison schon wieder. Seine Stats (25,1 Punkte, 9,0 Rebounds) sind wie immer überragend, mehr noch: Superstar-Material. Dazu sind die Mavs auch ohne Finley und Nash ein Winner-Team: Zehn Mal in den ersten 13 Spielen gingen die Texaner als Sieger vom Platz, zusammen mit den beiden NBA-Finalisten 2005, den San Antonio Spurs und den Detroit Pistons, sind die Mavericks das überragende Team der ersten Saisonwochen und eine Kon­stante in der Liga. „Zum Glück kann ich mich immer wieder gut auf den Sport konzentrieren und das andere verdrängen“, sagt der Würzburger.

Dirks große Liebe

Dabei scheint es gerade der Sport zu sein, der ihm dabei hilft, über alle Probleme hinwegzukommen. Wer Dirk Nowitzki beim Training sieht, der erkennt – mehr noch als bei den offiziellen Spielen –, dass er diesen Sport über alles liebt. Klar, die letzten Monate haben ihn verändert. Mehr noch als seine NBA-Lehrjahre. Er ist reifer geworden. Stärker. Erwachsener. Und das, ­ohne die fast schon kindliche Freude an jenem Spiel zu verlieren, das ihn zum Superstar, Multimillionär, Wegbereiter für europäische Basketball-Talente und Revolutionär der Forward-Position gemacht hat.
Dass er jetzt als Leader der Dallas Mavericks fungiert, ist nicht nur eine logische Folge seiner sportlichen Spitzenleistungen, sondern auch ein Zeichen der persönlichen Entwicklung. Aber trotz allem, was in den vergangenen Jahren und Monaten im Leben des deutschen Ausnahme-Basketballers vorgefallen ist, eins ist für Dirk klar: „Ich bin immer noch der Dirk, der einfach nur Basketball spielen und seinen Spaß haben will“, grinst er. „Jetzt trage ich halt mehr Verantwortung. Aber deswegen arbeite ich trotzdem noch vor dem Training, mache extra Krafttraining und schieße nach dem Training noch!“ Manche Dinge werden sich bei Dirk Nowitzki wohl nie ändern. Und das ist auch ganz gut so.

Autor: Steffen Sander (Erschienen in BASKET 01/2006)