Die Statline seiner Premierenspielzeit liest sich alles andere als schlecht: 18,3 Punkte, 5,7 Boards sowie 3,0 Assists pro Spiel legt der Modellathlet auf, folgerichtig erhält er den „Rookie of the Year“-Award. Im zweiten Jahr dann der Durchbruch des Überfliegers: Er bringt nicht nur 25,7 PPS auf den Hartwood und stopft in rücksichtsloser Manier Bälle über Gegner und in Ringe, sondern er führt die Raptors auch zur ersten Playoff-Teilnahme ihrer damals noch jungen Historie. Zusätzlich wird er ins All-Star-Game berufen und sorgt bei ebendiesem Event im Februar 2000 für den wohl legendärsten Slam-Dunk-Contest der NBA-Geschichte.

Was „VC“ dort abliefert, ist schwer zu beschreiben – er sorgt an diesem Abend jedenfalls für eine Menge runtergefallener Kinnladen: Mit kreativen und hochathletischen Dunks, die so noch kein Spieler zuvor versucht hatte, wie beispielsweise einen 360°-Windmill gegen den Uhrzeigersinn oder einen ­Alley-Oop-Windmill durch die Beine, liefert er sich mit Tracy McGrady ein wahnsinnig unterhaltsames Duell, das er am Ende vollkommen verdient für sich entscheidet. Nicht nur die Fans sind außer sich ob des Spektakels, auch NBA-Stars wie Shaquille O’Neal, Kevin Garnett oder Jason Kidd sieht man entweder kopfschüttelnd oder ausflippend am Spielfeldrand.

Unvergessen sind die Kommentare von Ex-NBA-Spieler Kenny Smith, der den Contest damals kommentiert und bereits nach Carters erstem Dunk mehrmals „Let’s go home!“ in sein Mikro ruft und damit die frühzeitige Entscheidung vorhersieht. „Ich habe mich gefühlt, als könnte ich bis zum Mond springen“, sagt Vince Jahre später. Seine Performance an diesem Tag verschafft ihm ein weiteres Alter Ego: „Half Man, Half Amazing“. Den Leuten wird klar: Dieser Mann ist etwas ziemlich Besonderes.

Dunker des Todes

Bestätigt werden sie in dieser Beobachtung im Sommer desselben Jahres, als Vince Carter im Trikot der US-Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen in Sydney etwas vollbringt, was heute als der beste „In-Game-Dunk“ aller Zeiten betitelt wird: Im Vorrundenspiel gegen Frankreich stürmt „Vinsanity“ nach einem Steal auf den gegnerischen Korb zu, im Weg nur noch der französische und 2,18 Meter große Center Frédéric Weis. Was für andere einschüchternd wirken würde, ist für den Wahnsinnigen nichts als ein weiterer Spieler in seinem Weg, folglich entscheidet er sich dafür, vom Boden abzuheben, eine ganze Weile zu fliegen und das Spielgerät über den Big Man absolut brachial in den Korb zu hämmern. Die französische Presse nennt das Ganze „Le dunk de la mort“ („Der Dunk des Todes“).

Obwohl McGrady 2000 Richtung Orlando abwandert, ist Carter weiterhin auf einem Höhenflug mit Toronto und führt sein Team 2001 ins Conference-Halbfinale. Währenddessen macht er das, was er am besten kann: punkten und stopfen, und zwar am Fließband. 2004 jedoch gehen er und die Raptors eher schlecht als recht auseinander und Vince wird nach New Jersey geschickt, wo er die besten Jahre seiner Karriere verlebt. In der Spielzeit 2006/2007 etwa verbucht er mit durchschnittlich 25,2 Punkten sein persönliches Career-High. 2009 folgt der Wechsel zu den Magic um Dwight Howard, in dieser Zeit erreicht er das erste und einzige Mal die Conference-Finals. Es folgen Beschäftigungen bei den Suns, Mavericks, Grizzlies und Kings – und trotz all seiner Klasse bleibt ihm der Titel stets verwehrt.

Auch im Jahr 2018 hat Vince Carter noch Ansprüche: „Mein größtes Ziel ist es, den für mich bestmöglichen Basketball zu spielen und meinem Team dabei zu helfen, so viele Spiele wie möglich zu gewinnen.“ Bei den Hawks ist seine Rolle zweifellos die des Veteranen, der den jungen Kollegen mit seiner über zwanzigjährigen Erfahrung in vielen Aspekten des Spiels weiterhilft. Sein spielerischer Einfluss hingegen ist eher als mittelmäßig zu bezeichnen, denn er steht nicht wie früher im Fokus, von den gelegentlichen Vintage-Momenten mal abgesehen. Für „Half Man, Half Amazing“ ist ohnehin eine neue Zeit angebrochen, die er selbst als „Phase 2“ seiner Karriere tituliert hat – denn die aktuelle Saison ist die wohl letzte des Vince Carter. Dabei ist es wahrlich imponierend, dass „Air Canada“ scheinbar nicht nur seine Physis und Kraft noch nicht gänzlich verloren hat.

Auch trägt er den Wettkampfhunger und die Lust am Basketballspielen nach sagenhaften 20 Jahren NBA in den Knochen noch immer in sich: „Ich liebe das Spiel immer noch, ich liebe den Wettkampf!“. Und er stellt klar: „Es ist nicht wegen des Geldes, ich habe eine Menge Geld in den ganzen Jahren gemacht.“ Dass er diesbezüglich keine Lügen erzählt, wird bei einem Blick auf seinen aktuellen Vertrag deutlich, der ihm für 2018/19 das für ihn geltende Mindestgehalt von „nur“ 2,39 Mio. Dollar garantiert. Auch den ganz großen Wurf, den Griff nach der Meisterschaftstrophäe, hat Vince schon längst von seiner Karriere-To-do-Liste gestrichen, denn bei Atlanta ist man von den Playoffs, geschweige denn von den Finals mehr als weit entfernt. „Vinsanity“, der Wahnsinnige, hat einfach noch Bock auf Basketball. Und, um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Why not?“ Wir schauen Vince Carter gerne weiter zu.

Text: Gregor Haag