Es ist die Nacht des 16. Juni 2015. Im Presseraum haben sich die Reporter versammelt, um O-Töne zum sechsten Spiel der NBA-Finals zu sammeln, in dem sich die Golden State Warriors gegen die Cleveland Cavaliers ihre erste Championship seit 40 Jahren gesichert haben. Das heutige Spiel bedeutet den Abschluss einer ereignisreichen NBA-Saison 2014/15 mit einem spektakulären Finale. Zum letzten Mal in dieser Spielzeit stellen sich Trainer und Spieler den Fragen der Journalisten, bevor es in die Sommerpause geht.

Natürlich will nach der Serie jeder die Coaches interviewen, Steve Kerr und David Blatt. Und die Superstars, Stephen Curry und LeBron James. Doch sind heute alle heiß auf einen Spieler, über den vor zwei Wochen noch kaum einer gesprochen hat: Andre Iguodala. Der vergessene All Star.

All-Defender und Starter

Iguodala

In seiner All-Star-Saison 2012 legte Iguodala im Schnitt 12,4 Punkte 6,1 Rebounds und 5,5 Assists auf (Foto: Getty Images)

Doch drehen wir die Uhr zurück. Auf „vor der Saison“. Vor die Ankunft Coach Kerrs in Oakland. Da hatte „Iggy“ bereits neun Jahre in der Liga auf dem Buckel, war ein gestandener Profi. All-Rookie First-Team 2005, Weltmeister 2010, Olympiasieger 2012, All Star 2012. Mit diesem Portfolio an Auszeichnungen war er ein Jahr zuvor nach kurzem Aufenthalt bei den Denver Nuggets zu den Golden State Warriors gewechselt. Als Veteran, als Leistungsträger. In der ersten Saison mit den „Dubs“ war er soeben ins All-Defensive First-Team 2014 berufen worden. In seiner ganzen Karriere war der Wingman in jedem einzelnen Spiel gestartet.

Und dann kommt der neue Trainer. Mit einer Vision. Mit Ideen, wie man das Playoff-Team, zu dem die Warriors herangewachsen sind, zu einem Contender macht. Doch diese Vision beinhaltet auch, dass Andre Iguodala als sechster Mann von der Bank kommt. Für ihn soll der jüngere, unerfahrenere Harrison Barnes starten. Ein Schlag ins Gesicht des Spielers, der nach dem Weggang Allen Iversons aus Philadelphia sechs Jahre lang das Herzstück einer Franchise gewesen war.

Doch der 1,98-Mann nimmt die Herausforderung an. Er vertraut dem Coach und dessen Konzept, stellt sein Ego zurück. Er will Vorbild für die jüngeren Spieler wie eben diesen Harrison Barnes sein und das Beste aus seiner neuen Rolle machen – für das Team.

Und so beginnt die Saison 2014/15. Für „Iggy“ zum ersten Mal von der Bank aus. 77 Spiele absolviert er in der regulären Saison für seinen Club. 77 mal fungiert er als Reservist. Mit reduzierter Spielzeit verringert sich auch die statistische Ausbeute für den Flügelspieler aus Illinois (2014/15: 7,8 PPS, 3,3 REB, 3,0 AS). Doch in 26,9 Minuten, die er zum Einsatz kommt, spielt er nicht weniger hart, als man es von ihm gewohnt ist. Er verteidigt stark und tut alles, um seine Jungs zu unterstützen. Und das zahlt sich aus. Steve Kerrs Plan geht auf.

Difference-Maker

Golden State verzeichnet einen Franchise-Rekord von 67 Saisonsiegen, ist damit in diesem Jahr das erfolgreichste Team der NBA und geht mit zwei All Stars in seinen Reihen (Klay Thompson, Stephen Curry) zuversichtlich in die Playoffs. Und weiter siegen die „Dubs“. Schlagen erst New Orleans (4:0), dann Memphis (4:2). Sie werden in fünf Matches gegen die Houston Rockets Western-Conference-Champion und stehen im Finale gegen LeBron James und dessen Cavaliers.

Iguodala

Andre Iguodala ist der erste Finals-MVP der Geschichte, der bis in die Finals nicht ein Spiel gestartet war (Foto: Getty Images)

Und die Finalserie ist brisant. Erst ein Overtime-Sieg in Game 1. Andre Iguodala kommt wieder von der Bank, spielt 32 Minuten, auch, weil er als einer der Top-Verteidiger für LeBron James, den besten Spieler der Welt, verantwortlich ist. Zudem trägt er mit 15 Punkten in der Offensive zur 1:0-Führung seiner Mannschaft bei. Diese soll allerdings nicht allzu lange währen. Dank Monster-Performances seitens LBJ und der Big Men der „Cavs“ liegen die Warriors nach drei Duellen 1:2 hinten. Das Team aus Cleveland ist einfach zu groß für Steph Curry und Co.

Doch dann trifft Steve Kerr die Entscheidung, die zum „Changer“ wird. Er lässt Iguodala starten. Spielt Small Ball. Gibt dem Veteran sein absolutes Vertrauen. Und der zahlt es zurück. Andre Iguodala spielt die drittmeisten Minuten aller Warriors (37,1), verteidigt LeBron besser als jeder seiner Mitspieler, reboundet, kämpft und nimmt den All-Stars eine Menge Verantwortung ab, indem er auch wesentlich mehr punktet (16,3 PPS) als zuvor. In den Games 4 und 6 stellt er je ein persönliches Season-High auf (Spiel 4: 22; Spiel 6: 25) und ist damit einer der Hauptgründe, warum die Golden State Warriors den vierten Titel der Franchise-Geschichte einfahren.

Dass er den Finals-MVP-Award gewinnt, ist für seine Kameraden später keine Überraschung: „Er ist ein Pros-Pro. Andre Iguodala verkörpert, was es heißt, sich professionell zu Verhalten. Die ganze Saison über war er es, an den wir uns gewandt haben, wenn es nicht so lief. Dann kam er von der Bank und hat Ruhe, Sicherheit in unser Spiel gebracht“, meint Draymond Green nach dem Spiel. „Es ist überragend, dass Iggy sich so zurückgenommen hat, um seine Truppe besser zu machen und dann da war, als wir ihn gebraucht haben. Es gibt niemanden, dem ich diesen Award mehr gönne“, pflichtet auch Erfolgstrainer Kerr bei. Zudem sei es „die schwierigste Aufabe im Basketball“, LeBron James zu verteidigen.

Und jetzt sitzt er da, im Presseraum, dieser Andre Iguodala. Der wertvollste Spieler der Finalserie. Er trägt die „Champion 2015“-Cap. Ein Lächeln im Gesicht. Die Blicke der Reporter auf sich gerichtet. Der Ex-All-Star steht wieder im Rampenlicht. Ein Journalist bekommt das Mikrofon und fragt: „Wenn man dich vor zwei Wochen gefragt hätte, wer MVP der Finals wird, was hättest du gesagt?“. Der 31-Jährige schmunzelt, dann sagt er: „Nun, ich weiß, was ich kann. Ich weiß, was ich drauf habe. Aber ich hätte vermutlich nicht meinen Namen genannt.“

Iguodala

Andre Iguodalas Finals-Stats: 16,3 PPS, 5,8 REB, 4,0 AS (Foto: Getty Images)

Text: Benedikt Lülsdorff