Der TD Garden in Boston, Massachusetts ist mehr als eine Multifunktionsarena. Unter dem Hallendach hängt Sportgeschichte, die zum Teil über ein halbes Jahrhundert alt ist. 17 Textil-Leinwände mit den Aufschriften „NBA World Champions 1957, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 69, 74, 76, 81, 84, 86 und 2008“ prangern hier von der Decke. Es sind die Championship-Banner der Boston Celtics. Dem erfolgreichsten NBA-Klub aller Zeiten. Dem Rekordmeister der besten Basketballliga der Welt. Fast jeder Sportler beschreibt es als ein beeindruckendes, ja fast schon erhabenes Gefühl, wenn er diese Halle betritt und von der Wucht der 17 Banner erschlagen wird. Wenn die Fülle des sportlichen Ruhms drückend auf ihn einprasselt. Die Banner, sowie Teile des Parkettbodens in der 1995 eröffneten Multifunktionsarena stammen noch aus dem altehrwürdigen Boston-Garden – dem einst kolossalen, aber abrissfälligen Gebäude in unmittelbarer Nähe, in dem  16 der 17 Titel gefeiert wurden.

Paul Pierce betrat vergangene Nacht zum gefühlt einhunderttausendsten Mal für ein NBA-Spiel diesen heiligen Boden. Für ihn sollte dieses Gefühl mittlerweile alltäglich, irgendwo gewöhnlich sein. Doch der Garant für den 17 Titel der Klubgeschichte im Jahr 2008, damals dem ersten seit 22-jähriger Durststrecke, streift zum ersten Mal nicht das Trikot mit der Aufschrift „Celtics“ über. Er ist als Gast hier, trägt statt dem weiß-grünen ein schwarzes Jersey mit dem Schriftzug „Brooklyn“. Ein Stofffetzen, der in diesem Fall nur eine brüchige Fassade symbolisiert. Denn Paul Pierce ist in seinem Herzen ein Kelte. Durch seine Adern fließt grünes Blut. Er besitzt den vielfach zitierten „Celtic Pride“. Er ist ein Celtic for Life.

Paul Pierce MVP

Eine Liebe für die Ewigkeit: 2008 Finals-MVP Paul Pierce und die Celtics-Anhänger

Und an dieser Tatsache zweifelt an diesem Abend niemand. Im gesamten Rund des Garden erwarten 18.624 Augenpaare mit Spannung den 120 sekündigen Videobeitrag, der ihr Idol Ende des 1. Viertels  ehren soll. Pierce wird beim Einspieler frenetisch gefeiert. Mit einer stehenden Ovation und bis ins zweite Viertel gehenden „Paul Pierce“-Sprechchören drücken die Celtics-Anhänger dem Finals MVP von 2008 ihre Dankbarkeit aus.

Ein solcher Moment genießt in der heutigen Sportwelt absoluten Seltenheitswert. Dabei spiegelt er nur das wieder, was Fans, Experten und Beobachter des Sports in ihrem moralischen Kodex teilweise für selbstverständlich halten. Die Loyalität eines Athleten. Die bedingungslose Liebe zu einem Unternehmen, welches im Grunde nicht mehr als einen Arbeitgeber darstellt. Ein Unternehmen, für das er als instrumentalisierter Goldesel im Grunde ersetzbar ist.

Paul Pierce Rückkehr 2

Thank you Paul!

Paul Pierce steht an diesem Abend vor seinem Vermächtnis. Er hat sich unsterblich gemacht. Nicht, weil er im Laufe seiner Karriere geschätzte 184 Millionen US-Dollar verdient oder den Titel wieder nach Boston geholt hat. Nicht weil er sich einst aus Inglewood, einem der elendigsten Vierteln Los Angeles, zur Elite einer Leistungsgesellschaft hoch gekämpft hat. Nicht, weil er einst wie durch ein Wunder eine Messerattacke mit 11 Stichen überlebte. Nein, er hat sich unsterblich gemacht, weil er die Herzen tausender Menschen berührt, erobert und anschließend nie gebrochen hat. Er, der einst das Rampenlicht in Boston mit den Zugängen Ray Allen und Kevin Garnett (dem an diesem Abend ein ähnlicher Empfang bei seiner Rückkehr bereitet wurde) für den Titeltraum teilte,  kehrt als einer von ihnen zurück und ist als solcher keinerlei Anfeindungen ausgesetzt. In der gesamten Sportwelt können das nur ganz wenige Athleten von sich behaupten.

Paul Pierce ist einer von diesen Athleten. Er ist einem Ideal gefolgt und wird an diesem Abend dafür belohnt. Eine Gänsehautwelle fließt durch den TD Garden, schleicht sich spürbar durch jedes grüne T-Shirt, durch jedes grüne Top, durch jeden grünen Hoodie. Man hat das Gefühl, dass die Welle selbst die 17 Banner unter dem Hallendach zum Zittern bringt. Es ist ein vollkommener Moment. Ein Moment, der den Sport in seinem elementarsten Wesen, seiner Begeisterungsfähigkeit, widerspiegelt.

Es ist ein Funke Sportromantik, der zunehmend erlischt.